„Feste Zusagen von allerhöchster Ebene sind nicht eingehalten worden!“ polterte Verkehrsminister Peter Ramsauer diese Woche medienwirksam. Der Anlass: Siemens gab – immerhin drei Wochen vor dem geplanten Betriebsstart – bekannt, dass die neuen ICE 3 Züge nicht wie geplant ab 9.12. eingesetzt werden können. Grund sind Probleme mit der Software. Der Eindruck, den nicht nur Ramsauer mit seiner Äußerung erwecken wollte, ist klar: Siemens ist entweder unfähig oder nicht willens, seine Verträge einzuhalten. Also Vorsatz oder zumindest Fahrlässigkeit und immer gut für ein Stammtischzitat.
Vorweg: Ich besitze keine Informationen über das ICE Projekt, die nicht über die Presse verfügbar wären. Ich kenne einige Software-Ingenieure, die in diesem Bereich arbeiten und halte viel von ihrer technischen Kompetenz. Wer ihnen simple Unfähigkeit unterstellt, sagt damit mehr über seine eigene Fähigkeit aus, technische Kompetenz zu beurteilen. Aber das ist ja auch nicht Aufgabe eines Ministers. Warum schaffen es also fähige und gut ausgebildete Software-Spezialisten und andere Ingenieure nicht, so einen Zug rechtzeitig auf die Schiene zu bringen?
Das Problem scheint Methode zu haben, wenn man die letzten Jahre Revue passieren lässt: Berlin Schönefeld („Unfähig!“), Airbus 380 („Versagen!“), Hartz IV Software („Lächerlich!“), Toll Collect („Unfassbar!“), Ariane V Absturz („Peinlich!“), um nur mal ein paar pressewirksame Probleme aufzuzählen. Sind unsere Ingenieure und Manager wirklich alle Versager? Sind sie unfähig, solche System plangemäß zu bauen?
Ich denke, zumindest die zweite Frage muss klar mit „ja“ beantwortet werden. Das hat aber nichts mit der Ausbildung oder der Kompetenz der Ingenieure zu tun, sondern mit der Komplexität dieser Aufgaben. Die Chaostheorie hat in den letzten vierzig Jahren verstanden, dass es Systeme gibt, die sich nicht sinnvoll vorhersagen lassen, aber im Nachhinein erklären lassen. Diese Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass bereits kleinste Abweichungen enorme Auswirkungen haben können. So ist die Ariane V auf ihrem Jungfernflug letztlich explodiert, weil die Countdown-Sequenz beim Wechsel von der Ariane IV auf die V um wenige Sekunden nach vorne verschoben worden war. Dies hat einen bis dato unbekannten Fehler in der Software ausgelöst, die seit Jahren erfolgreich auf der Ariane IV lief.
Großprojekte sind solche komplexen Systeme. Ein kleiner Fehler in der Gepäckbeförderung kann einen Großflughafen wie Denver für eineinhalb Jahre stilllegen. Ein einziger Fehler in vielen hunderttausenden Zeilen der Software kann einen Zug zur Notbremsung zwingen. Und selbst in sehr sauber gearbeiteten Programmen verbergen sich statistisch ein bis zwei Fehler in tausend Zeilen. Solche Fehler treten oft erst in Erscheinung, wenn Ereignisse in ganz bestimmten Konstellationen und zeitlichen Zusammenhängen auftreten, was von außen oft wie Zufall aussieht. Sicherheitskritische Software, wie sie in Flugzeugen, ICEs oder Medizingeräten eingesetzt wird, treibt einen hohen Aufwand, damit solche Fehler zumindest keine Menschenleben gefährden. Fehler dieser Art zu finden, ist extrem aufwändig und es ist unklar, wie lange die Suche dauert. Sie können durch gutes Handwerk reduziert werden, völlig vermeiden lassen sie sich nicht.
Das vermeidbare Problem liegt aber genau in der Einstellung, die auch Herr Ramsauer demonstriert: Wenn es für das Verletzen von Zeitplänen nur die beiden Erklärung „Unfähigkeit“ und „Insubordination“ gibt, werden Verzögerungen verdeckt und viel zu spät eskaliert. Je später aber Probleme eskaliert werden, umso weniger Optionen hat man, um zu reagieren und umso größer sind die Schäden. Wer von Anfang an mit Problemen rechnet, kann bewusst verschiedene Optionen offen halten. Das sieht aber erst einmal teurer aus, als der unproblematische Pfad. Und es setzt das Eingeständnis voraus, dass so große Projekte eben nicht vollständig durchplanbar sind, sondern eine Expedition in ein unbekanntes Land darstellen. Die Kosten für die Verschiebung um ein oder zwei Jahre, tauchen im initialen Angebot ja nicht auf.
Wir sollten uns daran gewöhnen, dass Großprojekte nicht glatt durchlaufen. Die Realität zur Kenntnis zu nehmen ist weder Unfähigkeit, noch Insubordination, sondern die Voraussetzung, besser zu werden.