Noch 238 Tage bis zur Wahl: Die „Logik“ der Populisten

Vielleicht finden Sie den ein oder anderen Gedanken der sogenannten „Neuen Rechten“ gar nicht so uninteressant. Vielleicht gibt es ja Argumente, die Sie für gar nicht so abwegig halten? Oder Sie kennen jemanden, auf den das zutrifft? Dann hilft es vielleicht, wenn Sie sich deren Logik und Argumentationsmuster etwas genauer ansehen.

Mir sind in den öffentlichen und auch privaten Diskussionen der letzten anderthalb Jahre immer mal wieder einige typische Logikfehler aufgefallen, die jeder für sich eher lässlich sind, systematisch angewendet aber genau das Dickicht aus Halbwahrheiten und Fehlschlüssen ergeben, aus denen Verschwörungsideologien ihre scheinbare Überzeugungskraft gewinnen. Diese Fehler sind hochtoxisch, weil man leicht auf sie hereinfällt und erst sehr spät – und manchmal auch gar nicht – merkt, dass man in Gelände geführt wurde, das allen eigenen Werten Hohn spricht. Hier also meine persönliche Hitliste:

  • Selektive Wahrnehmung: Wer sich im Wesentlichen auf Seiten wie PI-News und Russia Today informiert, bekommt – entgegen jeder Statistik schnell den Eindruck, Deutschland würde unter Ausländerkriminalität ins Chaos abrutschen. Der Mechanismus ist sehr einfach: Wenn man jeden Fahrraddiebstahl eines Ausländers groß herausbringt, schwerste Verbrechen durch Deutsche, wie den Fall Höxter oder den NSU aber nicht thematisiert, verändert sich schnell die Wahrnehmung der Leser. Nachdem der Mensch ohnehin zu „Bestätigungsfehlern“ neigt, wird so ein selbstverstärkender Prozess im Kopf des Lesers in Gang gesetzt: Grölende Jugendliche benehmen sich dann nicht einfach nur schlecht, sondern sind ein weiterer Beleg für den Untergang des Abendlandes, vorausgesetzt, sie haben dunkle Haare und Augen. Selektive Wahrnehmung ist eine Grundvoraussetzung für Vorurteile und für politischen Extremismus jeder Couleur. Das beste Gegenmittel ist es, auch die eigene Wahrnehmung immer wieder bewusst zu hinterfragen: Was müsste ich sehen, um meine Meinung zu ändern? Und wo kann ich es sehen?
  • Ex falso quod libet: Bei diesem beliebten Fehler werden scheinbar logische Schlussfolgerungen aus unsinnigen Annahmen gezogen (was mathematisch gesehen immer korrekt ist). Ein schönes Beispiel für diesen Fehler war die Diskussion um den Familiennachwuchs von Geflüchteten: „Wenn eine Millionen Flüchtlinge kommen und jeder sieben Familienmitglieder nachholen darf, kommen acht Millionen Menschen“ wurde behauptet. Die Gefahr dieses Musters liegt darin, dass die Aussage erst mal korrekt gerechnet ist und daher plausibel erscheint, obwohl die Voraussetzungen völlig aus der Luft gegriffen sind. Dass im letzten Jahr nur knapp 80.000 Menschen per Familiennachzug kamen, zeigt die offensichtliche Fehlrechnung. Oft werden bei den (falschen) Voraussetzungen verbreitete Vorurteile bedient, wie in diesem Beispiel. Das mindert die Gefahr, dass die Zuhörer die Voraussetzungen hinterfragen und erhöht die Chance, dass sie brav die anschließenden korrekten logischen Schritte mitgehen Richtung Angst, Hass und Ressentiment.
  • Kategorisierung: Will man über gesellschaftliche Themen sprechen, muss man Menschen in Kategorien einordnen. „Deutsche Staatsbürger“ ist nun mal leichter zu handhaben, als alle 80 Millionen Individuen aufzuzählen. Allerdings kann man durch die Wahl entsprechender Kategorien fast jede beliebige Aussage rechtfertigen. Wer Menschen nach ihrer Hautfarbe kategorisiert, wird Abseits dermatologischer Fragestellungen sehr schnell in die gefährlichen Gewässer des Rassismus geraten. Was ich messe, das sehe ich und wenn ich die Menschheit nur noch in „Deutsche“ und „Flüchtlinge“ einteile werde ich jedes beliebige Vorurteil bestätigt finden (was ist eigentlich mit all den Nicht-Deutschen Nicht-Flüchtlingen?). Das gleiche gilt, wenn ich von „den Politikern“ oder „den Journalisten“ rede, und ihnen vermeintlich bestimmte, meist negative Eigenschaften zuschreibe. Die Gruppen sind jeweils so groß und so heterogen, dass man dann für fast jede Aussage Beispiele anführen kann. Und Hand auf’s Herz: Wer hat noch nie zustimmend genickt, wenn es einmal wieder hieß „Die Politiker sind…“? Statt zu nicken wäre die Frage „Kennst Du auch Politiker, bei denen das nicht der Fall ist?“ viel hilfreicher.
  • Falsche Umkehrschlüsse: Wenn es regnet, werde ich nass. Aber wenn ich nass werde, bedeutet das noch lange nicht, dass es regnet. Ich könnte auch unter der Dusche stehen. Wenn ein Terrorist aus Syrien kommt, heißt das noch lange nicht, dass Syrer Terroristen sind. Wenn einzelne Menschen die Sozialhilfe missbrauchen bedeutet das noch lange nicht, dass Sozialhilfeempfänger alle Betrüger sind. Genau solche falschen Umkehrschlüsse findet man aber zuhauf in den einschlägigen Diskussionen. Sie sind einfach zu enttarnen, wenn man das Prinzip einmal auf sich selbst anwendet: Andreas Baader, Uwe Böhnhardt, Gudrun Ensslin und Uwe Mundlos waren alle Deutsche und sie waren Terroristen. Ich bin ebenfalls Deutscher, aber deshalb noch lange kein Terrorist.
  • Korrelation und Ursache verwechseln: „Das Bett ist der gefährlichste Ort der Welt, schließlich sterben über 90% der Menschen im Bett“. Dieses Schema wird gerne im Zusammenhang mit der Kriminalitätsstatistik eingesetzt, um scheinbar nachzuweisen, dass Deutsche weniger kriminell wären, als Nicht-Deutsche. Es ist nicht wirklich erstaunlich, wenn Mitglieder international tätiger Drogenkartelle oder Terrorgruppen in den meisten Ländern, in denen sie kriminell tätig werden, Ausländer sind. Das liegt aber nicht daran, dass Nicht-Deutsche krimineller wären, als Deutsche, sondern in der Natur der jeweiligen Organisation. Es ist auch nicht erstaunlich, dass die Anhänger des IS überwiegend Moslems sind – im Gegensatz übrigens zu den Anhängern rechtsextremer Terroristen, bei denen Moslems eher unterrepräsentiert sind. In all diesen Fällen findet man statistische Korrelationen, die aber höchstens auf indirekt ursächliche Zusammenhänge hinweisen. Kriminalität hat seine Ursachen in der Regel im sozialen Umfeld, nicht in Nationalität, Religion oder Abstammung. Wenn es hier Kreuzkorrelationen gibt, sagt das etwas über soziale Ungleichheiten aus und ist kein Beleg für rassistische, antiislamische oder nationalistische Vorurteile.

Alle diese Logikfehler sind tief in uns angelegt und wir alle machen sie immer wieder. Wenn man sich selbst dabei ertappt, kann man sich korrigieren. Für die Demokratie gefährlich werden diese Argumentationsfehler, wenn sie bewusst und systematisch eingesetzt werden, um menschenverachtendes Gedankengut scheinbar zu legitimieren. Wirklich toxisch wird es, wenn Konstrukte eingesetzt werden, die gegen Nachfragen und Zweifel immunisieren. Die beiden häufigsten sind:

  1. Delegitimierung anderer Quellen: Wenn man die Behauptung aufstellt, Wissenschaftler seien ohnehin alle gekauft, muss man sich nicht mehr damit beschäftigen, dass 98% der Klimawissenschaftler darin übereinstimmen, dass derzeit ein menschengemachter Klimawandel stattfindet und auch nicht mehr mit ihren (übrigens ziemlich guten) Argumenten. Wenn man behauptet, alle Journalisten seien unter Kontrolle der Regierung und nur die eigenen Informationen seien nicht gelogen, dann immunisiert man seine Anhänger gegen jeden kritischen Gedanken. Man baut eine in sich geschlossene Verschwörungsideologie auf. Das war der eigentliche Sinn, warum Joseph Goebbels den Begriff der „Lügenpresse“ eingesetzt hat: Er wollte seiner eigenen Propaganda die Alleinvertretung verschaffen, indem er die freie Presse diskreditiert. Wer heute diesen Begriff nutzt, ist sich dessen bewusst.
  2. Opferrolle: Wenn man mit verhaltensauffälligen Jugendlichen arbeitet, kennt man dieses Muster nur zu gut. Das Gegenüber wird so lange provoziert, bis er angreift. Dann stellt man sich selbst als das Opfer dar. Wer wirklich Opfer ist, der genießt Schonung, verdient Mitleid und darf Notwehr einsetzen. Dieser Grundkonsens der Menschlichkeit wird hier skrupellos missbraucht. Auch das ist ein bekanntes Muster aus dem letzten Jahrhundert. Es dient nicht nur dazu, den Gegner mundtot zu machen, sondern macht die eigene Bewegung auch attraktiv für andere, die sich – berechtigt oder nicht – ebenfalls als Opfer sehen. Wer es heute politisch einsetzt, weiß, in wessen Tradition er steht.

Um die Gesamtkonstruktion zu verstehen, kann man in Martin Morlocks „Hohe Schule der Verführung nachlesen:

„Demagogie betreibt, wer bei günstiger Gelegenheit öffentlich für ein politisches Ziel wirbt, indem er der Masse schmeichelt, an ihre Gefühle, Instinkte und Vorurteile appelliert, ferner sich der Hetze und Lüge schuldig macht, Wahres übertrieben oder grob vereinfacht darstellt, die Sache, die er durchsetzen will, für die Sache aller Gutgesinnten ausgibt, und die Art und Weise, wie er sie durchsetzt oder durchzusetzen vorschlägt, als die einzig mögliche hinstellt.“ (zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Demagogie)

Demagogie ist ein Grundpfeiler des Totalitarismus.

Noch 246 Tage bis zur Bundestagswahl

tldr; Die nächste Bundestagswahl entscheidet nicht (nur) über zukünftige parlamentarische Mehrheiten, sondern ob Deutschland als freies Land erhalten bleibt. Zu hoffen, dass schon alles gut gehen wird, ist mit Blick auf die Ereignisse des letzten Jahres zu gefährlich. Wir haben noch 246 Tage Zeit, mehr als 70 Jahre Frieden zu verteidigen.

Noch ist der Wahltermin am 24. September 2017 nicht amtlich, aber es wird wohl auf ihn hinaus laufen. Dann sind es noch 246 Tage bis zum entscheidenden Datum. Und diese Wahl wird anders, als die bisherigen Wahlen, an denen ich teilgenommen habe. Früher ging es darum, ob Kohl Kanzler bleibt (meistens blieb er es auch gegen meine Stimme), oder ob Deutschland ein wenig neoliberaler oder doch ein Quäntchen ökologischer werden sollte (meistens wurde es auch gegen meine Stimme etwas neoliberaler). Alles wichtige Fragen, aber keine, die unseren Staat in seiner Substanz angegriffen hätten. Diesmal ist es anders.

Zum einen ist der internationale Kontext anders. Mit Polen zeigt uns die führende Nation Osteuropas, wie schnell eine prosperierende und sympathische Demokratie in eine Parteiendiktatur abrutschen kann, stets unter Hinweis auf eine angebliche Mehrheit. Für Polen besteht noch Hoffnung, Ungarn hat sich längst in die rechtsautoritäre Autokratie verabschiedet und die Türkei, ein Staat mit dessen Bürgern viele Deutsche mittlerweile engste Familienbande unterhalten, weil ihre Eltern oder Großeltern von dort stammen, wandelt Erdogan eine mühsam aufgebaute Demokratie in atemberaubendem Tempo um in eine folternde, faschistoide Klerikaldiktatur. Wohl gemerkt, alle drei Staaten sind Mitglieder der NATO, zwei von ihnen Mitglied der EU.
Offen ist derzeit noch, welche Folgen die Ernennung eines offensichtlich unter einer narzistischen Persönlichkeitsstörung leidenden Reality-TV-Pöblers und dem sich daraus ergebenden Machtgewinn einer seit Jahren am rechtsextremen Rand mäandernden Tea Party für die USA hat, dem wichtigsten Führungsstaat der westlichen Welt. Es braucht aber eine Menge Phantasie, um da noch auf positive Szenarien zu kommen.
Mit dem Brexit hat sich Großbritannien als eine weitere Führungsmacht des Westens zwar nicht auf antidemokratischen Kurs begeben, aber zumindest als Folge einer typisch rechtspopulistischen Lügenkampagne aus seiner internationalen Verantwortung und Führungsrolle verabschiedet und um Frankreich als weitere demokratische Führungsmacht noch am Jahresende zu sehen, braucht man schon eine gehörige Portion Optimismus.

Bleibt noch Deutschland. Man kann durchaus trefflich über die aktuelle Regierungspolitik streiten, aber noch funktionieren bei uns die Regeln der Demokratie, haben wir eine freie Presse, freie Meinungsäußerung und ein freies, respektiertes Verfassungsgericht. Wer wie ich als erklärter Gegner der bayerischen Staatsregierungspartei seit über 40 Jahren in Bayern lebt, weiß die Segnungen der demokratischen Minderheitenrechte durchaus zu schätzen, ebenso die Fähigkeit, Unterschiede aushalten zu können und Differenzen friedlich beizulegen.
Machen wir uns nichts vor: Genau darum geht es bei dieser nächsten Wahl. Werden wir weiterhin die Rechte von Minderheiten und Opposition schützen? Werden wir weiterhin eine Presselandschaft haben, in der Zeitungen von der Welt und FAZ bis zur taz möglich, wertgeschätzt und erwünscht sind? Oder gerät auch Deutschland als eine der letzten Bastionen der liberalen Demokratie in den Strudel der Rechtspopulisten? Menschen, die Demokratie mit der Diktatur der Mehrheit verwechseln; die Freiheit missverstehen als ihre eigene Freiheit, nach Herzenslust rumpöbeln zu können und nicht vor allem als die Freiheit ihrer Mitmenschen, anders sein zu können, als sie selbst; die Loyalität verwechseln mit äußerlicher Homogenität?
Es ist wahr, die einzelne Stimme bewirkt nicht viel, aber wir haben noch 246 Tage Zeit, mit anderen zu sprechen, sie zu sensibilisieren, dass komplizierte Probleme nicht mit einfachen Haudrauf-Lösungen lösbar sind. Dass über 70 Jahre Frieden kein Zeichen von Schwäche sind, sondern von der enormen Stärke, viele verschiedene Lebensentwürfe zu ermöglichen und wertzuschätzen, auch wenn sie nicht den eigenen entsprechen. Nicht Homogenität macht die Stärke unseres Landes und unserer Gesellschaft aus, sondern Diversität, Toleranz und gegenseitiger Respekt.
Es gibt im September genügend Parteien zur Auswahl, die diese Werte nach persönlichem Geschmack ausgestalten. Vermutlich gibt es keine Partei, mit der man völlig übereinstimmt, aber Demokratie besteht nun einmal nicht unbedingt darin, dass die Besten an die Macht kommen (wer immer das sein mag), sondern dass die Macht so weit begrenzt und kontrolliert wird, dass auch ganz normale Menschen mit allen ihren Fehlern nicht allzu großen Schaden anrichten können. Das ist mühsam, sichert aber wirkungsvoller Frieden und Wohlstand als jeder andere bekannte Ansatz.
Es ist ein zentrales Element rechtspopulistischer und rechtsextremer Rhetorik, diesen erreichten Frieden und Wohlstand zu zerreden und mit tendenziöser und zum Teil auch erlogener „Berichterstattung“ ein Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung zu erzeugen – im klaren Widerspruch zu allen verfügbaren Statistiken und Fakten. Sie vermitteln den Eindruck eines „Failed State“, um die Demokratie und ihre Mechanismen zu diskreditieren (oder – in leichteren Fällen – Wähler abzufischen). Gegen dieses hoch wirksame Gift können wir uns wehren, jeden Tag, bei Freunden, Bekannten und Kollegen.
Wer die Kontrollmechanismen der Demokratie diskreditiert, die Presse unkritisch als Verschwörer und Lügenschleudern darstellt und systematisch die Grenze des sagbaren verschiebt hin zu Menschenverachtung und Demokratiefeindlichkeit, wer die normalen und leider auch weniger normalen Unwägbarkeiten des Lebens zum angeblichen Staatsversagen aufbläst, der präsentiert keine besseren Lösungen, sondern bereitet nur den Boden, auf dem Hass und Gewalt wachsen. Der zerstört die Basis unseres Friedens.
Es sind noch 246 Tage, das zu verhindern. Wer glaubt, das wird sich schon von alleine richten, hat – wie ich – vermutlich auch geglaubt, der Brexit würde scheitern, die PIS wäre wohl nicht so schlimm, Erdogan wird schon wieder zur Vernunft kommen und Trump wird nie Präsident der USA werden. Jeder wird sein Schärflein dazu beitragen müssen, dass wir die deutsche Demokratie nicht in diese Liste einordnen müssen. Nicht nur am 24. September, sondern vor allem bis zum 24. September. Fangen wir an.