Noch 246 Tage bis zur Bundestagswahl

tldr; Die nächste Bundestagswahl entscheidet nicht (nur) über zukünftige parlamentarische Mehrheiten, sondern ob Deutschland als freies Land erhalten bleibt. Zu hoffen, dass schon alles gut gehen wird, ist mit Blick auf die Ereignisse des letzten Jahres zu gefährlich. Wir haben noch 246 Tage Zeit, mehr als 70 Jahre Frieden zu verteidigen.

Noch ist der Wahltermin am 24. September 2017 nicht amtlich, aber es wird wohl auf ihn hinaus laufen. Dann sind es noch 246 Tage bis zum entscheidenden Datum. Und diese Wahl wird anders, als die bisherigen Wahlen, an denen ich teilgenommen habe. Früher ging es darum, ob Kohl Kanzler bleibt (meistens blieb er es auch gegen meine Stimme), oder ob Deutschland ein wenig neoliberaler oder doch ein Quäntchen ökologischer werden sollte (meistens wurde es auch gegen meine Stimme etwas neoliberaler). Alles wichtige Fragen, aber keine, die unseren Staat in seiner Substanz angegriffen hätten. Diesmal ist es anders.

Zum einen ist der internationale Kontext anders. Mit Polen zeigt uns die führende Nation Osteuropas, wie schnell eine prosperierende und sympathische Demokratie in eine Parteiendiktatur abrutschen kann, stets unter Hinweis auf eine angebliche Mehrheit. Für Polen besteht noch Hoffnung, Ungarn hat sich längst in die rechtsautoritäre Autokratie verabschiedet und die Türkei, ein Staat mit dessen Bürgern viele Deutsche mittlerweile engste Familienbande unterhalten, weil ihre Eltern oder Großeltern von dort stammen, wandelt Erdogan eine mühsam aufgebaute Demokratie in atemberaubendem Tempo um in eine folternde, faschistoide Klerikaldiktatur. Wohl gemerkt, alle drei Staaten sind Mitglieder der NATO, zwei von ihnen Mitglied der EU.
Offen ist derzeit noch, welche Folgen die Ernennung eines offensichtlich unter einer narzistischen Persönlichkeitsstörung leidenden Reality-TV-Pöblers und dem sich daraus ergebenden Machtgewinn einer seit Jahren am rechtsextremen Rand mäandernden Tea Party für die USA hat, dem wichtigsten Führungsstaat der westlichen Welt. Es braucht aber eine Menge Phantasie, um da noch auf positive Szenarien zu kommen.
Mit dem Brexit hat sich Großbritannien als eine weitere Führungsmacht des Westens zwar nicht auf antidemokratischen Kurs begeben, aber zumindest als Folge einer typisch rechtspopulistischen Lügenkampagne aus seiner internationalen Verantwortung und Führungsrolle verabschiedet und um Frankreich als weitere demokratische Führungsmacht noch am Jahresende zu sehen, braucht man schon eine gehörige Portion Optimismus.

Bleibt noch Deutschland. Man kann durchaus trefflich über die aktuelle Regierungspolitik streiten, aber noch funktionieren bei uns die Regeln der Demokratie, haben wir eine freie Presse, freie Meinungsäußerung und ein freies, respektiertes Verfassungsgericht. Wer wie ich als erklärter Gegner der bayerischen Staatsregierungspartei seit über 40 Jahren in Bayern lebt, weiß die Segnungen der demokratischen Minderheitenrechte durchaus zu schätzen, ebenso die Fähigkeit, Unterschiede aushalten zu können und Differenzen friedlich beizulegen.
Machen wir uns nichts vor: Genau darum geht es bei dieser nächsten Wahl. Werden wir weiterhin die Rechte von Minderheiten und Opposition schützen? Werden wir weiterhin eine Presselandschaft haben, in der Zeitungen von der Welt und FAZ bis zur taz möglich, wertgeschätzt und erwünscht sind? Oder gerät auch Deutschland als eine der letzten Bastionen der liberalen Demokratie in den Strudel der Rechtspopulisten? Menschen, die Demokratie mit der Diktatur der Mehrheit verwechseln; die Freiheit missverstehen als ihre eigene Freiheit, nach Herzenslust rumpöbeln zu können und nicht vor allem als die Freiheit ihrer Mitmenschen, anders sein zu können, als sie selbst; die Loyalität verwechseln mit äußerlicher Homogenität?
Es ist wahr, die einzelne Stimme bewirkt nicht viel, aber wir haben noch 246 Tage Zeit, mit anderen zu sprechen, sie zu sensibilisieren, dass komplizierte Probleme nicht mit einfachen Haudrauf-Lösungen lösbar sind. Dass über 70 Jahre Frieden kein Zeichen von Schwäche sind, sondern von der enormen Stärke, viele verschiedene Lebensentwürfe zu ermöglichen und wertzuschätzen, auch wenn sie nicht den eigenen entsprechen. Nicht Homogenität macht die Stärke unseres Landes und unserer Gesellschaft aus, sondern Diversität, Toleranz und gegenseitiger Respekt.
Es gibt im September genügend Parteien zur Auswahl, die diese Werte nach persönlichem Geschmack ausgestalten. Vermutlich gibt es keine Partei, mit der man völlig übereinstimmt, aber Demokratie besteht nun einmal nicht unbedingt darin, dass die Besten an die Macht kommen (wer immer das sein mag), sondern dass die Macht so weit begrenzt und kontrolliert wird, dass auch ganz normale Menschen mit allen ihren Fehlern nicht allzu großen Schaden anrichten können. Das ist mühsam, sichert aber wirkungsvoller Frieden und Wohlstand als jeder andere bekannte Ansatz.
Es ist ein zentrales Element rechtspopulistischer und rechtsextremer Rhetorik, diesen erreichten Frieden und Wohlstand zu zerreden und mit tendenziöser und zum Teil auch erlogener „Berichterstattung“ ein Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung zu erzeugen – im klaren Widerspruch zu allen verfügbaren Statistiken und Fakten. Sie vermitteln den Eindruck eines „Failed State“, um die Demokratie und ihre Mechanismen zu diskreditieren (oder – in leichteren Fällen – Wähler abzufischen). Gegen dieses hoch wirksame Gift können wir uns wehren, jeden Tag, bei Freunden, Bekannten und Kollegen.
Wer die Kontrollmechanismen der Demokratie diskreditiert, die Presse unkritisch als Verschwörer und Lügenschleudern darstellt und systematisch die Grenze des sagbaren verschiebt hin zu Menschenverachtung und Demokratiefeindlichkeit, wer die normalen und leider auch weniger normalen Unwägbarkeiten des Lebens zum angeblichen Staatsversagen aufbläst, der präsentiert keine besseren Lösungen, sondern bereitet nur den Boden, auf dem Hass und Gewalt wachsen. Der zerstört die Basis unseres Friedens.
Es sind noch 246 Tage, das zu verhindern. Wer glaubt, das wird sich schon von alleine richten, hat – wie ich – vermutlich auch geglaubt, der Brexit würde scheitern, die PIS wäre wohl nicht so schlimm, Erdogan wird schon wieder zur Vernunft kommen und Trump wird nie Präsident der USA werden. Jeder wird sein Schärflein dazu beitragen müssen, dass wir die deutsche Demokratie nicht in diese Liste einordnen müssen. Nicht nur am 24. September, sondern vor allem bis zum 24. September. Fangen wir an.