Noch 246 Tage bis zur Bundestagswahl

tldr; Die nächste Bundestagswahl entscheidet nicht (nur) über zukünftige parlamentarische Mehrheiten, sondern ob Deutschland als freies Land erhalten bleibt. Zu hoffen, dass schon alles gut gehen wird, ist mit Blick auf die Ereignisse des letzten Jahres zu gefährlich. Wir haben noch 246 Tage Zeit, mehr als 70 Jahre Frieden zu verteidigen.

Noch ist der Wahltermin am 24. September 2017 nicht amtlich, aber es wird wohl auf ihn hinaus laufen. Dann sind es noch 246 Tage bis zum entscheidenden Datum. Und diese Wahl wird anders, als die bisherigen Wahlen, an denen ich teilgenommen habe. Früher ging es darum, ob Kohl Kanzler bleibt (meistens blieb er es auch gegen meine Stimme), oder ob Deutschland ein wenig neoliberaler oder doch ein Quäntchen ökologischer werden sollte (meistens wurde es auch gegen meine Stimme etwas neoliberaler). Alles wichtige Fragen, aber keine, die unseren Staat in seiner Substanz angegriffen hätten. Diesmal ist es anders.

Zum einen ist der internationale Kontext anders. Mit Polen zeigt uns die führende Nation Osteuropas, wie schnell eine prosperierende und sympathische Demokratie in eine Parteiendiktatur abrutschen kann, stets unter Hinweis auf eine angebliche Mehrheit. Für Polen besteht noch Hoffnung, Ungarn hat sich längst in die rechtsautoritäre Autokratie verabschiedet und die Türkei, ein Staat mit dessen Bürgern viele Deutsche mittlerweile engste Familienbande unterhalten, weil ihre Eltern oder Großeltern von dort stammen, wandelt Erdogan eine mühsam aufgebaute Demokratie in atemberaubendem Tempo um in eine folternde, faschistoide Klerikaldiktatur. Wohl gemerkt, alle drei Staaten sind Mitglieder der NATO, zwei von ihnen Mitglied der EU.
Offen ist derzeit noch, welche Folgen die Ernennung eines offensichtlich unter einer narzistischen Persönlichkeitsstörung leidenden Reality-TV-Pöblers und dem sich daraus ergebenden Machtgewinn einer seit Jahren am rechtsextremen Rand mäandernden Tea Party für die USA hat, dem wichtigsten Führungsstaat der westlichen Welt. Es braucht aber eine Menge Phantasie, um da noch auf positive Szenarien zu kommen.
Mit dem Brexit hat sich Großbritannien als eine weitere Führungsmacht des Westens zwar nicht auf antidemokratischen Kurs begeben, aber zumindest als Folge einer typisch rechtspopulistischen Lügenkampagne aus seiner internationalen Verantwortung und Führungsrolle verabschiedet und um Frankreich als weitere demokratische Führungsmacht noch am Jahresende zu sehen, braucht man schon eine gehörige Portion Optimismus.

Bleibt noch Deutschland. Man kann durchaus trefflich über die aktuelle Regierungspolitik streiten, aber noch funktionieren bei uns die Regeln der Demokratie, haben wir eine freie Presse, freie Meinungsäußerung und ein freies, respektiertes Verfassungsgericht. Wer wie ich als erklärter Gegner der bayerischen Staatsregierungspartei seit über 40 Jahren in Bayern lebt, weiß die Segnungen der demokratischen Minderheitenrechte durchaus zu schätzen, ebenso die Fähigkeit, Unterschiede aushalten zu können und Differenzen friedlich beizulegen.
Machen wir uns nichts vor: Genau darum geht es bei dieser nächsten Wahl. Werden wir weiterhin die Rechte von Minderheiten und Opposition schützen? Werden wir weiterhin eine Presselandschaft haben, in der Zeitungen von der Welt und FAZ bis zur taz möglich, wertgeschätzt und erwünscht sind? Oder gerät auch Deutschland als eine der letzten Bastionen der liberalen Demokratie in den Strudel der Rechtspopulisten? Menschen, die Demokratie mit der Diktatur der Mehrheit verwechseln; die Freiheit missverstehen als ihre eigene Freiheit, nach Herzenslust rumpöbeln zu können und nicht vor allem als die Freiheit ihrer Mitmenschen, anders sein zu können, als sie selbst; die Loyalität verwechseln mit äußerlicher Homogenität?
Es ist wahr, die einzelne Stimme bewirkt nicht viel, aber wir haben noch 246 Tage Zeit, mit anderen zu sprechen, sie zu sensibilisieren, dass komplizierte Probleme nicht mit einfachen Haudrauf-Lösungen lösbar sind. Dass über 70 Jahre Frieden kein Zeichen von Schwäche sind, sondern von der enormen Stärke, viele verschiedene Lebensentwürfe zu ermöglichen und wertzuschätzen, auch wenn sie nicht den eigenen entsprechen. Nicht Homogenität macht die Stärke unseres Landes und unserer Gesellschaft aus, sondern Diversität, Toleranz und gegenseitiger Respekt.
Es gibt im September genügend Parteien zur Auswahl, die diese Werte nach persönlichem Geschmack ausgestalten. Vermutlich gibt es keine Partei, mit der man völlig übereinstimmt, aber Demokratie besteht nun einmal nicht unbedingt darin, dass die Besten an die Macht kommen (wer immer das sein mag), sondern dass die Macht so weit begrenzt und kontrolliert wird, dass auch ganz normale Menschen mit allen ihren Fehlern nicht allzu großen Schaden anrichten können. Das ist mühsam, sichert aber wirkungsvoller Frieden und Wohlstand als jeder andere bekannte Ansatz.
Es ist ein zentrales Element rechtspopulistischer und rechtsextremer Rhetorik, diesen erreichten Frieden und Wohlstand zu zerreden und mit tendenziöser und zum Teil auch erlogener „Berichterstattung“ ein Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung zu erzeugen – im klaren Widerspruch zu allen verfügbaren Statistiken und Fakten. Sie vermitteln den Eindruck eines „Failed State“, um die Demokratie und ihre Mechanismen zu diskreditieren (oder – in leichteren Fällen – Wähler abzufischen). Gegen dieses hoch wirksame Gift können wir uns wehren, jeden Tag, bei Freunden, Bekannten und Kollegen.
Wer die Kontrollmechanismen der Demokratie diskreditiert, die Presse unkritisch als Verschwörer und Lügenschleudern darstellt und systematisch die Grenze des sagbaren verschiebt hin zu Menschenverachtung und Demokratiefeindlichkeit, wer die normalen und leider auch weniger normalen Unwägbarkeiten des Lebens zum angeblichen Staatsversagen aufbläst, der präsentiert keine besseren Lösungen, sondern bereitet nur den Boden, auf dem Hass und Gewalt wachsen. Der zerstört die Basis unseres Friedens.
Es sind noch 246 Tage, das zu verhindern. Wer glaubt, das wird sich schon von alleine richten, hat – wie ich – vermutlich auch geglaubt, der Brexit würde scheitern, die PIS wäre wohl nicht so schlimm, Erdogan wird schon wieder zur Vernunft kommen und Trump wird nie Präsident der USA werden. Jeder wird sein Schärflein dazu beitragen müssen, dass wir die deutsche Demokratie nicht in diese Liste einordnen müssen. Nicht nur am 24. September, sondern vor allem bis zum 24. September. Fangen wir an.

5 Gedanken zu „Noch 246 Tage bis zur Bundestagswahl

  1. Lieber Jens,

    deine Sorgen um den Verlust von Freiheit in unserem Land teile ich. Die Idee, schon vor der Wahl die Stimme zu erheben – gegenüber Freunden, Bekannten, Kollegen und anderen, halte ich ebenfalls für hilfreich.

    Mir fällt auf: Den AfD-Sympathisanten, Pegidaläufern und Wutbürgern geht es ja genauso wie uns jetzt: sie sorgen sich um das Land und erheben ihre Stimme.

    Wenn wir jetzt in unserem Umfeld versuchen, das Bundestagswahlergebnis zu beeinflussen, kann das für mich allenfalls eine Notfallmaßnahme sein. Ich glaube, wenn wir uns weiterhin in unserer eigenen Blase bewegen, kommen wir gegen diese Entwicklung letztendlich nicht an, weil wir selbst die Verursacher sind und das Phänomen verstärken. Das möchte ich erklären.

    Wir nehmen für uns in Anspruch, es besser zu wissen und die Guten zu sein. Wir erheben uns moralisch über sie. Wenn ich von „wir“ spreche, dann meine ich Menschen, die global denken und agieren, die sich als Europäer, Weltbürger und Kosmopoliten begreifen, die beruflich international vernetzt sind, die sich geografisch entfernten Kontexten und Kulturen ebenso verbunden fühlen wie der unmittelbaren Nachbarschaft, die alle daraus resultierenden Vorteile und Freiheiten für sich zu nutzen wissen. Egal in welchem Kontext wir sind, wir können in dieser Welt wirksam werden und damit Sinn schaffen oder erfahren. Wir sind das Establishment, die Elite.

    Die anderen sind regional und national beheimatet. Ihnen fehlt der Anschluss an unsere Welt bzw. unsere Welt ist für diese Menschen nicht anschlussfähig, vielleicht gar nicht attraktiv, nicht erstrebenswert oder einfach nicht erreichbar. Ihnen geht sogar ihre Welt verloren! Hartmut Rosa schreibt: „Dort wo Kindergärten und Schulen geschlossen sind, weil es keine Kinder mehr gibt, der Bus nicht mehr fährt, Schwimmbäder dicht machen, wehren sich die Einwohner am radikalsten gegen Fremde.“ Diese Menschen haben kapiert, dass sie in dieser Welt kaum noch wirksam werden können, ihnen geht der Sinn verloren. Und sie fühlen sich nicht gehört, noch nicht einmal gesehen, denn wir gucken da gar nicht hin. In der Politik, in den Medien, in den Konzernen und in der Öffentlichkeit dominiert unsere kosmopolitische und elitäre Sicht und in dieser Realität kommen diese Menschen und deren Realitäten nicht mehr vor. „Wenn ich nicht gehört, gesehen, gemeint oder adressiert werde, dann entwickle ich das Bedürfnis, etwas zwanghaft einzufordern. Die fehlende Selbstwirksamkeit wird wettgemacht, indem ich mich bemerkbar mache und dem anderen meinen Willen aufzwinge.“ sagt auch Hartmut Rosa.

    Wie sich das anfühlt, erleben wir jetzt.

    Und wie reagieren wir? Mit Distanzierung, Abwehr, Ekel, Beschimpfung, Herabsetzung, Ausschluss. Nazis, Dumpfbacken.

    Wir haben diese Entwicklung nicht verstanden, weil wir Weltbürger die Bedürfnisse der Wutbürger nicht verstehen wollen und auch ihre Sprache nicht. Deren Sprache ist für uns politisch nicht korrekt. Wir sind so arrogant, die Maßstäbe für die Zugehörigkeit setzen zu wollen. Wenn Begriffe wie „Volk“ und „völkisch“ wieder populär werden, dann markiert das nur den Unterschied zu unserem „Bürger“.

    Wir haben als Weltbürger weite Teile der Menschen ausgeschlossen und wundern uns jetzt, dass sie eine neue Zugehörigkeit und Identität suchen, kreieren und auch finden. Vor allem bei den Populisten, die, so der Duden „die Gunst der Massen zu gewinnen suchen“. In Wikipedia steht
    „Als eine Ursache für populistische Tendenzen gilt u. a. eine fehlende Bürgernähe und eine große Distanz zwischen den Interessen und der Sprache einer Gemeinschaft und denen der Regierenden bzw. des Establishments.“

    Genau: Wir sind die Ursache! Die Unterscheidung von Welt- und Wutbürger haben wir mit unserer Ignoranz selbst provoziert oder zumindest geduldet. Die „Lügen“ der „Lügenpresse“ ist die einseitige systemkonforme Realitätskonstruktion. Das ist ein ähnliches Reframing wie nun die „alternative Fakten“.

    Die Populisten füllen die Lücke, die wir mit unserem Unvermögen und unserer Arroganz produziert haben. Und auch das war uns noch halbwegs egal. Nur jetzt wird uns Angst und Bange, weil wir allmählich realisieren, dass wir möglicherweise mit unserer Weltsicht, in unserer Blase, in der Minderheit sind.

    Deswegen sollten wir nicht nur auf die nächste Bundestagswahl starren, sondern beginnen, uns über diese Grenzen hinweg wieder zu sehen, miteinander zu sprechen, zuzuhören und einfach anerkennen, was ist. Unser Problem sind nicht die AFD-Anhänger, Wutbürger und Pegidaläufer, sondern die Menschen in der Politik, in der EU, in den Notenbanken, in der Öffentlichkeit und in den Medien, die mit ihrem (elitären) Tunnelblick die Realität ganzer Bevölkerungsteile nicht sehen und nicht anerkennen wollen. Die, die unser System unter Inkaufnahme des Ausschlusses großer Bevölkerungsgruppen stabilisieren und krampfhaft aufrecht erhalten, sind unser Problem. Ich teile nicht die Sprache, Werte und Meinungen der Wutbürger, aber ich kann mir deren Realität ansehen, anerkennen und erklären lassen.

    • Lieber Bernd,

      danke für Deine Gedanken. Du erwähnst einen m.E. sehr wichtigen Punkt: Die Ursachen für den rasanten Anstieg der rechten Protestwähler sind nicht die angebliche Überfremdung, deshalb hat es auch nichts geholfen, die Flüchtlingspolitik um 180 Grad umzukehren. Die Ursachen liegen deutlich tiefer. Menschen fühlen sich machtlos und abgehängt und rufen deshalb nach dem „starken Mann“. Ich vermute dahinter aber deutlich mehr Gründe, als eine Lücke, die „wir mit unserem Unvermögen und unserer Arroganz produziert haben.“ Die hemmungslose Macht- und Vermögensverschiebung Richtung Banken und Großkonzerne im Rahmen des Neoliberalismus spielt hier eine Rolle (sehr lesenswert dazu: Douglas Rushkoff: „Throwing Rocks at the Google Bus: How Growth Became the Enemy of Prosperity“), der weitgehende Abbruch der Infrastruktur vor allem in manchen neuen Bundesländern, ein Schulsystem, das junge Menschen noch auf die Anforderungen des frühen 20. Jahrhunderts vorbereitet und nicht des 21., die Konzentration des Aufbaus Ost auf rein wirtschaftlichen Aufbau, ohne Zivilgesellschaft und Bevölkerung beim Aufbau demokratischer Strukturen mitzuhelfen usw.
      Ich stimme daher nicht mir Dir überein, dass „wir die Ursache“ sind. Mal abgesehen davon, dass es in komplexen Systemen ohnehin keine einfachen Ursache-Wirkungs-Ketten gibt, sondern bestenfalls Zyklen, würden wir mit dieser Aussage die Populisten in ihrer selbstgewählten Opferrolle bestärken. Ich kann niemanden aus seiner ganz persönlichen Verantwortung entlassen, wenn er Menschen beklatscht, die austesten, wie menschenverachtend sie noch sprechen können, ohne den Staatsanwalt auf den Hals zu bekommen. Ich kann niemanden aus seiner persönlichen Verantwortung entlassen, wenn er jemanden wählt, der sich öffentlich sexueller Übergriffe auf Frauen rühmt. Ich kann niemanden aus seiner Verantwortung entlassen, wenn er sich im wesentlichen über PI-News und Russia Today informiert. Ich kann niemanden aus seiner Verantwortung entlassen, wenn er nicht die offensichtlichen Parallelen in der Strategie und Wortwahl zu den Demagogen der frühen Nazizeit hinterfragt und verurteilt. Und ich kann niemanden aus seiner Verantwortung entlassen, der statt zuzuhören und zu debattieren nur pöbelt.
      Es mag Gründe geben für dieses Verhalten, ebenso wie es Gründe gibt, warum jemand zum Kriminellen wird. Aber verantwortlich für seine Tat und sein Verhalten bleibt jeder selbst. Und nein, Pöbler und Rechtsextreme sind keine „Systemopfer“, sondern Pöbler und Rechtsextreme. Und wer sie gewähren lässt und nicht in die Schranken weist, muss sich gefallen lassen, Mitläufer genannt zu werden.
      Für mich teilen sich die Sympathisanten der Rechtspopulisten in mindestens drei Gruppen: Die Protestwähler, die Täter und die Drahtzieher. Täter haben ein in sich geschlossenes, menschenverachtendes, rechtsradikales und teilweise nationalsozialistisches Weltbild, das sie aggressiv gegen andere Aspekte und Meinungen, mithin jeden demokratischen Diskurs abschotten. Hier helfen höchstens noch professionelle Aussteigerprogramme. Für eine demokratische Debatte sind sie unerreichbar.
      Anders ist das vielleicht noch bei den Protestwähler. Sie sind sicher keine Nazis, reagieren auf objektive oder zumindest nachvollziehbare Missstände und sind zumindest noch für Argumente erreichbar. Sie zu beschimpfen ist kontraproduktiv, aber ich halte es für durchaus legitim, sie damit zu konfrontieren, wem sie sich anschließen.
      Ich stimme Dir zu, die eigene Filterblase zu verlassen, zuhören sind demokratische Pflicht. Aber auch Andersdenkende in die eigene Filterblase einzulassen. Wenn ich aufgrund eines Links auf einen Artikel von Sascha Lobo mit Tweets á la „Ihre Meinung find ich peinlich. Dumm odercstasilinks [sic]?“ angesprochen werde, lese ich da kein Interesse an Zuhören raus – und kann mich auch nicht als arrogante, abgehobene Ursache sehen.Ich habe übrigens trotzdem einen Dialog versucht, aber dazu ein anderes Mail mehr.
      Bleiben noch die Drahtzieher. Sie setzen bewusst, strategisch und in vollem Bewusstsein der Konsequenzen Demagogie ein, um ihre eigene Agenda zu verfolgen. Die Ziele der bekannten unter ihnen sind unappetitlich genug: Förderung des eigenen Ego (z.B. Trump, Johnson) und klassische geheimdienstliche Destabilisierungspolitik anderer Länder, weil man sie als feindlich ansieht (Putin). Es ist kein Zufall, dass die berüchtigten Petersburger Troll-Fabriken dem Militär unterstellt sind. Über die diversen Schweiz-Connections unserer Rechtsradikalen (PI-News, Wahlkampfhilfe) weiß man zu wenig, um es bewerten zu können. Wir haben es also mit bewussten, hoch-intelligenten Angriffen auf unsere Demokratie zu tun. Da reicht es nicht, in Selbstreflektion zu erstarren, ob man seine Punkte vielleicht noch ein wenig gewaltloser rüber bringen kann. Zur wehrhaften Demokratie gehört es auch, jemanden der Nationalität vor Menschenwürde stellt, als das zu bezeichnen, was er ist: Ein Nationalist. Und einen antisemitischen Rechtsextremisten, der die Nazizeit verharmlost als das zu bezeichnen, was er ist: Ein Neonazi.

      • Vorbemerkung:
        Lieber Moritz,
        Dein Kommentar hat mir ganz schön Kopfzerbrechen verursacht. Auf der einen Seite bin ich ein großer Freund diverser Standpunkte und respektiere Dein Recht auf freie Meinungsäußerung. Andererseits habe ich nicht die Absicht, diesen Blog zu einem weiteren Forum für Inhalte zu machen, die im Internet ohnehin überrepräsentiert sind, gemessen an den aktuellen Umfragen.

        Ich habe mich also dazu entschieden, Deinen Kommentar gekürzt und mit Inline-Kommentaren von mir (in kursiv) versehen zu veröffentlichen.

        Jens

        „Die Ursachen für den rasanten Anstieg der rechten Protestwähler sind nicht die angebliche Überfremdung, deshalb hat es auch nichts geholfen, die Flüchtlingspolitik um 180 Grad umzukehren.“

        Wann und wo wurde denn die Flüchtlingspolitik um 180 Grad gedreht? Die „Balkanroute“ wurde weitestgehend geschlossen, aber das ist kein Verdienst der Bundesregierung, sondern unserer Nachbarstaaten.
        Frau Merkel hat ihre Politik rein gar nicht geändert, im Gegenteil: Der Zustrom geht ungehindert weiter, nur das er jetzt eben nicht mehr über die Balkanroute läuft, sondern über die Übernahme aus Griechenland, Italien und der Türkei…

        Zugegeben ist „180 Grad Wende“ eine Interpretation. Also erstmal die Fakten: Laut Zahlen des EASY Systems kamen im Jahr 2015 1,15 Mio Asylsuchende nach Deutschland, im Jahr 2016 waren 321.000, also ein Rückgang um 72%. Die Zahlen für die EU sind schwierig zu vergleichen, weil die Statistiken, die ich gefunden habe, Zahl der Antragsteller rechnet und nicht, wie EASY, Zahl der Ankommenden. Da ist aber einiges an Verzögerung drin. Laut Wikipedia sieht es aber nicht nach einem deutlichen Rückgang der Flüchtlingszahlen aus. Es hat also im Wesentlichen eine Verlagerung von Deutschland vor allem nach Griechenland und Italien stattgefunden.
        Man kann sicherlich darüber streiten, welche Maßnahmen welche Auswirkungen hatte. Es ist auch Interpretationssache, ob man das als „180 Grad Wende“ interpretiert oder nur als leichte Anpassung. „Rein gar nichts“ ist aber sicher keine Formulierung, die von den Familienangehörigen derer unterschrieben würde, die in der letzten Woche in griechischen Lagern erfroren sind.
        Ich glaube, der überwiegenden Mehrheit der Deutschen ist mittlerweile klar, dass die große Anzahl von Failed States im Nahen Osten und Nordafrika und die daraus resultierenden Flüchtlingsströme uns vor erhebliche Wertekonflikte stellt, von den organisatorischen Problemen mal ganz zu schweigen, die dank Zivilgesellschaft halbwegs abgefedert werden konnten. Hier müssen gesellschaftliche und politische Kompromisse und Balancen gefunden werden, nicht irrationale Ängste geschürt werden, um Maximalforderungen durchzusetzen.

        …so wie den Familiennachzug, der wahrscheinlich in die Millionen geht…

        Siehe dazu meinen Blog „Die Logik der Populisten“.

        […] Wo siehst Du auch nur den Ansatz einer Wende in der Asylpolitik? Alles was die Bundesregierung in dieser Frage betreibt ist Augenwischerei, wie etwa Frau Merkel’s Satz den sie seit Monaten predigt, dass man „denjenigen ohne Bleibeperspektive SAGEN müsse, dass sie das Land wieder zu verlassen haben“. […]

        Siehe oben. Politik misst sich an Konsequenzen.

        […] Die Werte die Du oben anführst von Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit sind doch nur noch pure Illusionen von denen man sich nicht trennen kann.

        Warum sollte man sich von ihnen trennen wollen? Wer das wirklich will, gehört zu einer sehr kleinen (und ziemlich gefährlichen) Minderheit und fällt vermutlich unter Artikel 18 GG.

        […] Deutschland ist NICHT DIE Vorzeigedemokratie und es sind NICHT alles Populisten außer die Bundesregierung.

        Das hat auch niemand behauptet. Im Gegenteil ist mir persönlich der Anteil populistischer Tendenzen innerhalb der aktuellen Koalition deutlich zu groß.

        Fakt ist: Unsere Medien berichten einseitig, manipulativ, unobjektiv und propagandistisch.

        Fakt ist: Reporter ohne Grenzen listet Deutschland im Jahr 2016 auf Platz 16 weltweit, also sehr weit vorne und vier Plätze schlechter als 2015. Interessant auch die Begründung für die Verschlechterung: „Deutschland hat sich in der diesjährigen Rangliste um vier Plätze auf Rang 16 verschlechtert – eine Folge der stark gestiegenen Zahl von Anfeindungen, Drohungen und gewalttätigen Übergriffen gegen Journalisten.“ (siehe https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/2016/)

        Fakt ist: Wer in diesem Staat die „falsche“ Meinung vertritt wird zwar nicht strafrechtlich belangt, aber dennoch gesellschaftlich und politisch geächtet, so wie im schlimmsten Fall zerstört.

        Den „Fakt“ kann ich hier nicht erkennen. Es gibt in jeder Gesellschaft einen Grundkonsens, was sagbar ist und was nicht. In Deutschland werden die Grenzen des Sagbaren durch die Menschenwürde definiert und durch die Verantwortung, die sich speziell für Deutschland aus dem Jahrhundertverbrechen der Shoa ergibt. Wer sich außerhalb dieses Grundkonsenses begibt, wird zurecht geächtet. Aber auch innerhalb dieses Konsenses bedeutet Meinungsfreiheit nicht das Recht, alles unwidersprochen und unkritisiert sagen zu dürfen. Ich sehe also keinen Belegt für Deinen „Fakt“.

        Fakt ist: Demokratie braucht Oppositionen,…

        Das ist korrekt

        …aber in der Asylpolitik gibt es in diesem Land keine Opposition mehr, allesamt wollen unisono das Land ohne Obergrenze […]

        Das ist nicht korrekt. Etwa 95% der AfD Wähler und sicher auch ein gewisser wenn auch deutlich kleinerer Anteil der CSU-Wähler und ein noch kleinerer der CDU-Wähler wollen eine völlig andere Asylpolitik. Herr Seehofer ist dazu ja kaum zu überhören. In Summe macht das 20-30% der Bevölkerung, die Zahlen schwanken da etwas. Von den übrigen 70-80% ist der überweigende Teil sich durchaus bewusst, dass es hier um einen Wertekonflikt geht, nicht um die einzig „richtige“ Lösung. Dass sich die ablehnenden Stimmen nur teilweise durchsetzen konnten und auch die anderen 70-80% Einfluss haben, ist Teil des demokratischen Prozesses. Der Vorteil der Demokratie ist, dass eben auch Minderheiten zur Meinungsbildung beitragen können – auch wenn einem das Ergebnis nicht immer gefällt.

        […]

        Zu Deinen weiteren Ausführungen über die Rolle und den aus Deiner Sicht undemokratischen Umgang mit der AfD, zu deren Verbreitung ich hier nicht beitragen möchte, empfehle ich Dir einen Beitrag von Carolin Emcke aus der Süddeutschen Zeitung zu lesen: http://www.sueddeutsche.de/politik/kolumne-seifig-1.3341834.

  2. Moin Jens, es geht mir nicht darum, in Selbstreflektion zu erstarren und ich meinte auch bewusst nicht die Empathie gegenüber den Anführern und Populisten, sondern die gegenüber den von unserem System ausgeschlossenen Menschen. Gegen die kommunikativen Angriffen mit Fake-News etc. müssen wir uns auch wehren, aber das ist ein anderesThema.

    Ja, wir reden hier von einem komplexen System. Und Zugehörigkeit ist das grundlegendste Systemprinzip. Da dies verletzt wurde, kommt es zur gesellschaftlichen Spaltung, denn jeder braucht die Zugehörigkeit zu einem sozialen und gesellschaftlichen System.

    Der erste Schritt, um dies zu heilen, ist der Verzicht auf Leugnung. Also anerkennen, dass eine kritische Masse von Menschen die Zugehörigkeit zu unserem System verloren hat und Populisten und neue Anführer diese Situation jetzt ausnutzen, um ein eigenes neues System zu kreieren (das nicht das unsere sein wird, zu dem wir dann nicht zugehörig sein werden).

    Der zweite Schritt ist die Reinklusion und die kann jeder damit beginnen, den anderen wieder als Menschen zu sehen.

    Solange das Systemprinzip der Zugehörigkeit so eklatant verletzt bleibt, provozieren alle anderen Kommunikationen vorwiegend Affektmuster und -schleifen.

    Natürlich ist ein Rechtsextremer ein Rechtsextremer und das können wir uns selbst und unter uns auch immer wieder klarmachen. Wenn wir damit beim eigentlichen Empfänger (einem von uns ausgeschlossenen Menschen) jedoch nur Affektmuster bedienen und provozieren (und unsere eigenen auch nicht bemerken), stärken wir vermutlich seine Impulse, sich einem Populisten anzuschließen, um seine soziale und gesellschaftliche Zugehörigkeit wieder herzustellen. Wir handeln dann also kontraproduktiv und beschleunigen den Prozess. Irgendwann ist dann Björn Höcke Innenminister und ein deutscher Kanzler Trumpogan kriminalisiert uns mit den von uns geschaffenen staatlichen Überwachungswerkzeugen.

    • Lieber Bernd,
      danke für die Erläuterung. So stimme ich Dir zu. Eine Wirtschaft, die die soziale Schere immer weiter öffnet, zerstört den sozialen Frieden und wenn staatliche Grundleistungen wie Polizei oder Krankenhäuser im Namen der Ökonomisierung in ganzen Landstrichen ausgedünnt werden, ist das nicht in Ordnung. Die Betroffenen verdienen nicht nur Empathie, sondern dass diese Missstände abgebaut werden.

      Meine Empathie endet dort, wo der berechtigte Unmut über objektive Missstände umschlägt in Hass gegen Minderheiten, wo ein sachlicher Dialog abgelehnt wird und wo man anderen Rechte abspricht, die man für sich selbst beansprucht. Wer so agiert, schließt sich selbst aus der demokratischen Gesellschaft aus – und darf jederzeit zurück kommen, wenn er oder sie wieder bereit ist, die Regeln zu beachten.

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