Felix Rüssel hat vor einiger Zeit in seinem — übrigens insgesamt sehr lesenswerten — Blog einen älteren Beitrag von mir zum Kundennutzen unter dem Titel „Kundenzufriedenheit vs Kosten“ in die Kritik genommen. Einer von Felix‘ Kernsätze war: „Die agile Sichtweise schlägt […] stark vereinfacht vor, Kundennutzen grundsätzlich zu maximieren. Dies darf jedoch nicht zu Lasten des Gesamtbudgets des Projektes gehen! Dieser Konflikt muss durch den ProductOwner bzw. den Projektleiter erkannt und zusammen mit dem Kunden gelöst werden“, und er beklagt sich: „Die Kundenzufriedenheit spielt […] unbestritten eine zentrale Rolle, wird jedoch gerade in der agilen Welt zu oft als alleiniges Heilmittel angesehen. Es wird oft aus der Sicht des Ingenieurs argumentiert, der Prozesse und Arbeitsergebnisse optimieren möchte.“
Ich teile Felix‘ Auffassung nicht, dass die alleinige Fokussierung auf die Kundenzufriedenheit nur aus einer technokratischen Sicht kommt. Ich denke, sie hat auch handfeste betriebswirtschaftliche Gründe, zumindest wenn der Kontext stimmt. Felix argumentiert in seinem Beitrag aus der Sicht eines Softwarehauses: „In den meisten Fällen arbeiten heute Teams in der Projektentwicklung weiterhin mit Werkverträgen, d.h. es wird ein definiertes Ergebnis zu einem bestimmten Termin geschuldet.“ Das bedeutet aber eben nicht nur ein Werkvertrag, sondern auch eine neue, künstlich eingezogene betriebswirtschaftliche Ebene: Für den Auftragnehmer ist in dieser Situation nicht mehr der betriebswirtschaftliche Erfolg der Software relevant, sondern einzig der Erfolg des Projekts ihrer Erstellung, gemessen an Einhaltung von Umfang und Termin möglichst unterhalb des Budgets und zu einer Qualität, die mir nicht gerichtsfest um die Ohren geschlagen werden kann.
Je weiter ich als Projektleiter also kurzfristige Kosten und damit Qualität nach unten drücken kann, um so erfolgreicher bin ich betriebswirtschaftlich als Projekthaus. Allerdings werden dabei die Kosten nicht wirklich reduziert, sondern nur vom Auftragnehmer zum Auftraggeber verlagert: Der Auftragnehmer spart vor der Produktionssetzung Kosten ein, indem er weniger in Qualität investiert, der Auftraggeber muss ein Mehrfaches dieser Kosten hinterher aufbringen, um die Fehler zu beheben, mit den Fehlerfolgen umzugehen und das verkorkste Design weiter zu entwickeln. In der Rechtstheorie könnte er dafür zwar den Auftragnehmer in Mängelhaftung nehmen, in der Praxis ist das jedoch nicht nachzuweisen.
Rob Austin bezeichnet diese Konstellation in einem meiner Lieblingsbücher „Measuring and Managing Performance in Organizations“ als „Measurement Distortion“: Wenn ein System (oder Vertrag) von vier Parametern bestimmt wird (Termin, Umfang, Kosten und Qualität) und ich kann nur drei von ihnen einigermaßen messen (Termin, Umfang und Kosten), so werden diese auf Kosten des schlecht messbaren vierten Parameters (Qualität) optimiert. Wie das im Projektalltag dann aussieht, beschreibt Felix sehr richtig und treffend.
Die Schlussfolgerung ist aber nicht, dass Agilisten „das Thema ‚Kosten‘ gerne verdrängen“ würden, sondern dass Werkverträge nicht geeignet sind, betriebswirtschaftlich sinnvoll ein Softwaresystem zu erstellen: Hier geht es ja nicht nur um Entwicklungskosten (die der Auftragnehmer eines Werkvertrages optimiert), sondern um die Gesamtkosten („Total Cost of Ownership“) des Systems, zu denen unter anderem auch Betriebs-, Wartungs-, Weiterentwicklungs- und Stilllegungskosten gehören. Die Rechnung wird also am Ende der Lebenszeit der Software aufgemacht, nicht zu Produktionsstart. Um die Tatsache abzubilden, dass bei den Kosten auch der Zeitfaktor mitspielt, arbeiten Betriebswirtschaftler mit Abzinsungsmodellen, die ein guter Product Owner meines Erachtens kennen und soweit sinnvoll berücksichtigen sollte. Mike Cohn beschreibt solche Modelle sehr gut in seinem Buch „Agile Estimating and Planning„, Kapitel 10.
Die agile Sicht stellt also dem traditionellen Projekt „Software bis zur Produktionsreife entwickeln“ eine Produktsicht gegenüber: Der Return-on-Investment über den gesamten Lebenszyklus muss optimiert werden. Ich habe diesen Gedanken 2005 einmal in dem Artikel „Projektdämmerung“ weiter ausgeführt. Es geht also um eine globale Optimierung statt einer lokalen, bzw. um eine ganzheitlichere Sicht auch in der betriebswirtschaftlichen Steuerung. In Scrum ist genau das die Aufgabe des Product Owners.
Mit anderen Worten: Die Abkehr vom Werkvertrag ist für den Auftraggeber wichtig und sinnvoll. Die Auftragnehmer haben sich mit Werkverträgen arrangiert, vom meist agilen, kundenorientierten Softwarehaus, das sich bemüht, das Spannungsfeld für alle Seiten einigermäßen erträglich auszubalanzieren bis zum eiskalten Homo Ökonomicus im Großkonzern, für den nur noch Termine und Kostenminimierung zählen und die nicht vertraglich fixierten Interessen des Kunden keine Rolle mehr spielen. Der Auftraggeber liefert sich in beiden Fällen ohne Not dem Auftragnehmer aus, seine Interessen kommen dabei in der Regel unter die Räder.