Praktiken I: Retrospektiven

Zu den – neuen – Kerngedanken agiler Entwicklung gehört die Idee, den Prozess in die Verantwortung des Teams zu geben. Das entspricht zum einen dem agilen Manifest, das ja fordert, dass „Individuen und Interaktion wichtiger sind, als Prozesse und Werkzeuge“. Zum anderen wird hier einmal wieder ein Konzept aus dem „Lean Management“ umgesetzt: Bei Toyota haben die Arbeiter in der Produktion erheblichen Einfluss auf die Produktionsprozesse. Schließlich wissen sie am besten, was gut funktioniert und was nicht.

Die Verantwortung für den Prozess zu bekommen bedeutet freilich nicht, dass jeder tun und lassen kann, was er will. Das Team muss vielmehr definieren, wie es arbeitet und diesen Prozess ständig verbessern. In seinen Crystal Methoden hat Alistair Cockburn die „Methodology Shaping Workshops“ nach jeder Auslieferung als eine der wenigen bindenden Praktiken definiert. Seitdem vor sieben Jahren Norm Kerths Buch „Retrospectives“ erschienen ist (siehe unten), haben sich Retrospektiven in allen agilen Verfahren als zentrale Praktik entwickelt: Regelmäßig stattfindende Workshops, auf denen alle Beteiligten reflektieren, wie das letzte Release gelaufen ist und beschließen, was in Zukunft anders gemacht werden soll. Es handelt sich dabei um eine Reflexion der gelebten Projektpraxis, also nicht um ein Review eines Prozessdokuments und auch nicht um einen Audit.

Retrospektiven sind eine wichtige Feedbackschleife für das Team. Jedes einzelne Teammitglied bekommt einen Überblick darüber, wie persönliche Arbeitsweisen und Maßnahmen den Gesamterfolg des Vorhabens beeinflussen. An die Stelle der lokalen Optimierung der persönlichen Arbeitsweise tritt der Blick auf das Ganze. Viele Agilisten sehen daher regelmäßige Retrospektiven als die „Königspraxis“: Teams, die iterativ arbeiten und regelmäßig Retrospektiven durchführen, werden über kurz oder lang eine agile Arbeitsweise entwickeln. Retrospektiven sind unverzichtbarer Motor für die Einführung agiler Verfahren und ebenso notwendiges Korrektiv, wenn sich das Vorgehen stabilisiert hat.

Fast immer werden bei Retrospektiven auch Konflikte zwischen den Teilnehmern aufgedeckt und müssen ausgetragen und geklärt werden, um die zukünftige Arbeit nicht weiter zu belasten. Damit das konstruktiv geschieht, sollten Retrospektiven unbedingt von einem oder mehreren externen Moderatoren geleitet werden. Zu Beginn kann das auch der eigene Agilitätscoach sein, im Laufe der Iterationen wird aber auch dieser zunehmend „Partei“ und sollte wie alle anderen Teammitglieder auch als Teilnehmer beitragen.

Wann sollte man eine Retrospektive durchführen?

Um den optimalen Zeitpunkt einer Retrospektive zu wählen, muss man drei widerstrebende Aspekte beachten:

  • Seit dem Beginn des Vorhabens oder seit der letzten Retrospektive muss ausreichend Zeit vergangen sein, dass man Aktionen und ihre Auswirkungen wirklich beurteilen kann. Idealerweise sollte man den kompletten Wertschöpfungszyklus einmal durchlaufen haben, also ein Stück Software von der ersten Idee bis zum stabilen Betrieb gebracht haben
  • Die Erkenntnisse aus der Retrospektive sollten noch eine ausreichende Hebelwirkung auf das Vorhaben selbst besitzen, sonst hat man zwar in die Ausbildung der Mitarbeiter investiert, hat aber keinen Vorteil mehr für das Projekt. Insbesondere kann man schädlichen oder gefährlichen Tendenzen nicht mehr entgegen wirken. Man vergibt sich also ein wichtiges Managementinstrument. Wer diesen Aspekt nicht beachtet, landet bei sogenannten „Postmortems“, bei denen die Beteiligten zwar hinterher wissen, was andere denken, dass man besser gemacht hätte, die aber dem Projekt selbst nicht mehr helfen
  • Der Zeitraum, über den die Retrospektive geht, sollte nicht zu lang sein, sonst sind die besonders wichtigen frühen Ereignisse längst vergessen und müssten mühsam aus E-Mails und sonstigen Unterlagen rekonstruiert werden – was im Zweifelsfall nicht stattfindet

Bei agilen Verfahren können alle diese Anforderungen bequem erfüllt werden: Nach jedem Release findet eine Retrospektive statt, deren Ergebnisse dann direkt in die Arbeit für das nächste Release einfließt. Hier kann man auch sehr bewusst mit dem Prozess experimentieren und das jeweilige Optimum suchen. Wer nicht agil arbeitet, wird zwar auch von Retrospektiven profitieren, doch ist deren Lenkungskraft viel schwächer – und damit auch ihr Nutzen.

Wer sollte teilnehmen?

Grundsätzlich sollten alle Personen teilnehmen, die zum Verlauf des Vorhabens in dem zu betrachtenden Zeitraum beigetragen haben. Das sind neben Entwicklern und Projektmanagement auch Produktmanager oder Kundenvertreter, Tester, technische Autoren, eventuell auch Betrieb, DB-Administration, Vertreter von zuliefernden Projekten, Coaches usw. Besonders wichtig ist es, die „Außenschnittstellen“ des Projekts abzudecken, also jene, auf deren Arbeitsergebnisse das Team direkt aufgebaut hat und jene, die Ergebnisse direkt verwendet haben. Man wird nicht immer für alle Beteiligten einen gemeinsamen Termin finden, doch ist das Ergebnis einer Retrospektive umso besser, je mehr verschiedene Sichtweisen zu dem Gesamtbild beitragen.

Bei verteilten Teams ist eine Retrospektive ein besonders geeigneter Zeitpunkt, alle Beteiligten an einem Ort zusammen zu bringen und dadurch auch Missverständnisse und Lagerdenken auszuräumen.

Gruppendynamisch ist eine Gruppengröße unter 20 Personen optimal, bis zu 40 Personen sind noch in einer Veranstaltung machbar. Bei mehr Teilnehmern muss man mehrere Teilveranstaltungen durchführen und die Ergebnisse zusammen führen oder andere Techniken anwenden. Hier kann man kaum noch allgemeingültige Regeln angeben. So große Treffen erfordern individuelle Planung und Vorbereitung.

Auch hier gilt wieder, dass agile Teams durch ihre natürliche Tendenz zu kleinen Einheiten deutliche Vorteile haben. Die Grenze von 40 Personen wird hier kaum je überschritten. Traditionelle Teams mit ihrem häufigen Hang zu großen Gruppen erhöhen die Komplexität der Veranstaltung und damit die Kosten überproportional.

Wie läuft eine Retrospektive ab?

Eine klassische Retrospektive geht über drei Tage plus Vor- und Nachbereitung und läuft in sechs Phasen ab:

  1. Vorbereitung: Der Moderator macht sich mit dem Team vertraut und gibt den Teilnehmern Anweisungen zur Vorbereitung. Die Teilnehmer sammeln wichtige Ereignisse und andere Informationen, die dazu beitragen können, den Projektverlauf zu verstehen. Die Vorbereitung benötigt einen halben bis einen Tag und findet normalerweise verteilt über die zwei Wochen vor der eigentlichen Retrospektive statt.
  2. Einführung und Aufbau von Vertrauen: Dies ist der Auftakt der eigentlichen Veranstaltung. Ziele und Agenda werden geklärt, es werden Regeln zum Umgang und zur Vertraulichkeit vereinbart und bei Bedarf finden Übungen zur Vertrauensbildung statt.
  3. Projektverlauf klären: In dieser Kernübung wird aus den individuellen Erinnerungen und Sichten auf das Projekt ein gemeinsames Bild über die Abläufe entwickelt. Oft wird dazu ein Zeitstrahl eingesetzt, auf dem Ereignisse chronologisch und aus den verschiedenen Sichten gesammelt werden. Interpretationen sind dabei unerwünscht, es geht um die Sammlung von Fakten. In der Regel werden in dieser Phase Missverständnisse aufgedeckt und ausgeräumt, erfahrene Moderatoren erkennen wesentliche Konflikte und passen das weitere Vorgehen entsprechend an.
  4. Auswertung: Der Zeitstrahl wird gemeinsam und in Arbeitsgruppen ausgewertet: Verbesserungspotenzial wird gesucht, Konflikte werden gelöst und Prozessveränderungen diskutiert. Ebenso wichtig ist auch die Identifikation von Praktiken und Verhalten, die das Vorhaben wesentlich vorangebracht haben und beibehalten werden sollen. Dabei wird wechselweise in funktionsübergreifenden Gruppen gearbeitet und in Gruppen, die ohnehin jeden Tag zusammen arbeiten. Dies wahrt die Balance zwischen globaler Sicht und Expertensicht.
  5. Zusammenfassung: Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden vorgestellt und in überprüfbare Aktionslisten überführt. Die Aktionen werden priorisiert, den wichtigsten drei Aktionen werden Verantwortliche zugeordnet und sie werden terminiert. Die Beschlüsse einer Retrospektive sind für alle Beteiligten bindend – auch für das Management. Daher ist es wichtig, dass das Management während der gesamten Veranstaltung anwesend ist und ggf. ein Veto einlegt. Mit der Zusammenfassung wird die Retrospektive selbst abgeschlossen und der Moderator zieht sich zurück.
  6. Nachbereitung: Nun müssen die Aktionen noch umgesetzt werden. Die Beschränkung auf drei Aktionen hilft, jene zu finden, die auch wirklich angepackt werden, anstatt eine lange Liste guter Vorsätze aufzustellen, die letztlich keine Auswirkung haben.

Unabhängig von den beschlossenen Maßnahmen sind die Teamprozesse während einer Retrospektive oft der größte Nutzen: Konflikte werden aufgelöst oder zumindest einer Lösung näher gebracht. Missverständnisse werden ausgeräumt und die Grundlage einer vertrauensvollen Zusammenarbeit wird wieder hergestellt. Vor allem identifziert sich das Team mit dem Vorhaben und dem Prozess. Der dadurch gewonnene Produktivitätszuwachs macht den Aufwand einer Retrospektive oft innerhalb weniger Wochen wieder wett.

Bei agilen Teams ist ein wichtiger Punkt auf der Tagesordnung die Gestaltung der nächsten Retrospektive. Datum und auch Dauer müssen festgelegt werden. Oft beschließt das Team nach der zweiten oder dritten Retrospektive, nur noch jede zweite Veranstaltung in vollem Umfang durchzuführen und die anderen als kürzere „Zwischenretrospektiven“ abzuhalten.

Retrospektiven finden außerhalb der gewohnten Arbeitsumgebung statt, die Teilnehmer übernachten gemeinsam im Hotel. Für den Abend werden gemeinsame Aktivitäten organisiert, wie Kegeln, ein gemeinsames Abendessen oder eine Nachtwanderung. Diese Maßnahmen helfen, Konflikte zu versachlichen und das Teamgefühl zu verstärken.

Wer kann moderieren?

Retrospektiven gehören zu den Veranstaltungen, die mit am schwierigsten zu moderieren sind: Das hohe Konfliktpotenzial, der sehr unterschiedliche Hintergrund der Beteiligten und die Komplexität eines Projektablaufs stellen hohe Anforderungen an die Moderation. Moderatoren sollten mehrjährige Erfahrungen aufweisen in agiler Entwicklung, in der Moderation von Workshops, im Konfliktmanagement und in der Durchführung von Retrospektiven. Die folgende Liste enthält Kollegen aus dem deutschsprachigen Raum, mit denen ich bisher zusammen gearbeitet habe und die Retrospektiven durchführen können (in alphabetischer Folge – die Empfehlungen beziehen sich auf die Personen und enthalten keine Aussage über die genannten Unternehmen!):

Bei komplexen Situationen, konfliktträchtiger Vorgeschichte oder großer Teilnehmerzahl arbeite ich neuerdings auch mit Chau Bau Tang zusammen, die mich als psychologisch ausgebildeter Business Coach unterstützt: Als Moderationsteam können wir Konflikte besser und effizienter angehen und auflösen.

Was kostet das Ganze?

Auf der Kostenseite müssen Sie in der Regel mit folgenden Posten rechnen:

  • Arbeitsausfall der Teilnehmer für ca. vier Tage inklusive Vor- und Nachbereitung
  • Reisekosten
  • Hotel und Seminarraummiete
  • Abendveranstaltung
  • Moderatorenhonorar
  • Arbeitsmaterial

Die Posten sind in absteigender Höhe sortiert. Der Nutzen in Form von Produktivitätsverbesserungen durch die Retrospektive übersteigt diese Kosten in der Regel innerhalb von vier bis sechs Wochen.

Wo kann man sparen?
Es ist sicher günstiger, eine Kegelbahn zu mieten, als den Nachtabsprung eines Fallschirmsprungveranstalters zu buchen. Auch bei der Auswahl des Hotels besteht Spielraum: Es muss nicht das Luxus-Hotel auf den Malediven sein, ein solides Business-Hotel in der Gegend tut es auch, solange dort eine angenehme Arbeitsatmosphäre aufgebaut werden kann. Die Jugendherberge in der nächsten Stadt ist sicherlich nicht mehr geeignet. Sehr nette Workshops sind auch auf bewirtschafteten Berghütten oder in manchen Klöstern möglich.

Nicht sparen sollte man bei der Dauer und bei den Moderatoren. Zu kurze Retrospektiven können beendet sein, bevor man bis zu den eigentlichen Problemen vorstößt: Der verlorene Nutzen ist dann bedeutend größer, als die eingesparten Kosten. Unerfahrene Moderatoren können mehr Schaden als Nutzen anrichten, wenn ihnen die Situation entgleitet. Sehen Sie die Retrospektive als Investition, die es solide abzusichern gilt.

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